Ein Loblied aufs Weinen, im Ernst jetzt? Wer braucht denn bitteschön so etwas? So oder ähnlich mag es dir vielleicht durch den Kopf gegangen sein, als du den Titel meines Blogposts gelesen hast. Kann ich verstehen, und trotzdem lautet meine entschiedene Antwort: Wir alle brauchen dieses Loblied! Warum? Tränen eilt seit jeher völlig unbegründet ein viel zu schlechter Ruf voraus. Würden wir das Geheimnis dieser winzigen Verwandlungskünstler kennen, wären wir dankbar für jede einzelne Träne, die durch unsere Augen das Licht der Welt erblickt.
Von Dankbarkeit sind die meisten von uns allerdings meilenweit entfernt, wenn es ums Weinen geht. Vielmehr werden Tränen unterdrückt, gemieden, verwünscht, kleingeredet, gefürchtet und nicht wenige schämen sich ihrer. Es gibt natürlich auch die Tränen, die aufgrund schöner, zu Herzen gehender oder lustiger Anlässe rollen. Doch auch da lässt sich oft genug ein peinliches Berührtsein ob der eigenen Tränen beobachten. Mit einem entschuldigenden Lächeln werden diese meist schnell wieder weggewischt.
Besonders schwierig wird es, wenn Menschen in emotionale Extremsituationen geraten. Situationen, wie beispielsweise die Diagnose einer lebensverkürzenden Krankheit, wenn ein geliebter Mensch stirbt, oder man sich selbst im Sterben befindet. Tränen sind dabei garantierte Begleiter, auch wenn sie immer wieder ungefragt auf der Bildoberfläche erscheinen. Doch wie oft werden diese Tränen aus den unterschiedlichsten Motiven heraus nicht geweint! Mit weitreichenden Folgen für jeden Betroffenen und sein Umfeld.
Tränen-Wissen
Ich habe diese emotionalen Ausnahmesituationen aus verschiedenen Perspektiven allesamt selbst erlebt. Mein Mann erhielt mit 31 Jahren die Diagnose Krebs, als ich gerade hochschwanger mit unserem Kind war. Neun Monate später starb mein Mann und ich war plötzlich alleinerziehende junge Witwe in tiefer Trauer. Ich entschied mich, meine Trauer aktiv und bewusst anzugehen und nahm mir viel Zeit für bewusstes Trauern und schreibendes Erinnern.
Aus dieser intensiven und heilsamen Erfahrung heraus fand ich zu meiner Berufung und wurde Trostkünstlerin. Mit Trostkunst helfe ich seitdem Trauernden dabei, ihren Trauermut zu finden, damit es gelingt, aktiv und bewusst zu trauern, die Trauer heilsam ins Leben zu integrieren und wieder Hoffnung und Zuversicht zu spüren.
Ich kann also mit gutem Gewissen behaupten, dass sich in meinem Rucksack an Lebenserfahrungen – privat wie beruflich – bereits so einiges an Tränen-Wissen angesammelt hat. Und genau aus diesem Grund ist es mir auch so wichtig, diese Worte hier zu schreiben und meine Erkenntnisse mit dir zu teilen. Die Beziehung zu unseren Tränen darf, sollte, ja, muss sich sogar grundlegend verändern!
Bin ich normal
Beispielhaft möchte ich an dieser Stelle von einer Begebenheit erzählen, die ich während der ersten Sitzung eines „Trauermut“-Coachings mit einer Klientin erlebte. Thema war, wie sie ihre momentane Trauer und sich selbst als Trauernde wahrnimmt. Meine Klientin erzählte mir von ihrer Angst, krank zu sein, weil sie wegen ihres Verlustes so viel weinen müsse. Ihr Arzt und ihre Therapeutin hätten ihr sogar verzögerte Trauerreaktionen attestiert und direkt Psychopharmaka sowie Schlafmittel verschrieben. Warum? Weil sie nach ihrem Verlust, den sie vor fünf Monaten erlitten hatte, immer noch in Trauer sei.
Die Trauererfahrungen, welche meine Klientin machen musste, ließen mich sprachlos und entrüstet zurück. Ich fragte mich, wie man einem trauernden Mensch so etwas erzählen kann. Was für ein immenser Schaden damit doch angerichtet wird. Jegliche Trauerreaktionen und -gefühle werden im Umkehrschluss als falsch empfunden, unterdrückt und somit kann überhaupt gar keine heilsame Auseinandersetzung mit dem Erlebten und der eigenen Trauer mehr stattfinden.
Die Tränen meiner Klientin waren dabei ganz klar das Sinnbild für ihre „falschen“ Trauergefühle. Wundert es da, dass sie ihre Tränen nicht haben wollte, sie unterdrückte und sich schlecht dabei fühlte, anstatt sie einfach fließen zu lassen? „Ach, bin ich froh, dass meine Tränen und meine Trauer normal sind!“, waren ihre erleichterten Worte am Ende unserer Sitzung.
Warum so befangen
Woher kommt denn nun aber dieser befangene Umgang mit dem Weinen? Warum höre ich immer wieder von Trauernden, dass sie es nicht mehr länger aushalten, immer und überall in Tränen auszubrechen? Warum fällt es so vielen Trauernden schwer, ihre Tränen im Beisein anderer Menschen in aller Öffentlichkeit zu weinen? Warum verfallen Gesprächspartner verlässlich in irgendeine Art von Aktionismus, wenn das Gegenüber zu weinen beginnt, statt die Tränen liebevoll auszuhalten?
Zum einen hängt es sicherlich mit den Eigenschaften zusammen, die gemeinhin mit Weinen in Verbindung gebracht werden. Da wären zum Beispiel Schwäche, Verletzlichkeit, Versagen, Gefühlsduselei oder Kontrollverlust. Spannenderweise sind das Dinge, die wir nicht mit der Muttermilch aufgesaugt haben. So kennen kleine Kinder diese Furcht vorm Weinen und die damit einhergehenden Wertungen noch nicht. Für sie gehören Tränen ohne Wenn und Aber in ihren Koffer der gängigen Kommunikationsmittel.
Ungesunde Prägungen
Erst mit der Zeit setzen die Kleinen dieses Kommunikationsmittel immer seltener ein. Doch nicht etwa aus einer freien Entscheidung heraus. Es sind die vielen Kommentare und Reaktionen seitens der Eltern, anderer Familienmitglieder, Erzieher oder Lehrer, die ihnen vermitteln, dass ihre Tränen nicht okay, angebracht oder gern gesehen sind. Bezugspersonen, die das weinende Kind lieber mit Worten, Süßigkeiten oder Spielzeug versuchen abzulenken, die ihm das Weinen mit den Worten „Da muss man doch nicht gleich weinen“ ausreden, oder die das Kind gar als Heulsuse betiteln.
Welches Kind behält unter diesen Umständen noch Lust auf reinigende Tränenausbrüche? Welches Kind versucht sich stattdessen in seinem Verhalten nicht so anzupassen, dass es der Norm entspricht und wieder vollends dazugehört? Und ehe man sich versieht, wurden dem Kind seine ersten, tief sitzenden negativen Prägungen in Bezug aufs Weinen gepflanzt. Doch ist es auch das vorgelebte Verhalten der Familie, wenn zum Beispiel ein Familienmitglied schwer erkrankt oder stirbt. Das Kind erlebt alles mit, stuft das Verhalten automatisch als richtig und normal ein und übernimmt unterbewusst und unreflektiert diese Verhaltensweise für seine Zukunft.
Nur zu gut erinnere ich mich an den Tag, an dem mein Opa gestorben war und ich meinen Vati zum ersten Mal in meinem Leben weinen sah. Diese Tatsache berührte und verstörte mich fast mehr, als der Tod meines Opas und ich wusste überhaupt nicht damit umzugehen. Bereits am nächsten Tag stellte sich mir diese Frage jedoch nicht mehr, denn mein Vati war ganz der Alte und hatte seine „Schwäche“ wieder unter Kontrolle gebracht. Was nahm ich als Kind aus diesem Erlebnis mit? Dass es sich nicht gehört, seine Trauer und Tränen offen auszuleben und man so etwas lieber allein mit sich ausmacht.
Zeit für Neuprogrammierung
Die Angst zu weinen und das Unvermögen, sich als Trauernder offen mitsamt seiner Tränen und Trauergefühle zeigen zu können, basiert auf der Unfähigkeit unserer Gesellschaft im Allgemeinen, Gefühle anzunehmen und offen auszuleben. Insbesondere wenn es sich um die negativen Gefühle Angst, Wut, Traurigkeit und Scham handelt – zusammen mit der Freude unsere fünf menschlichen Basisgefühle. Wir haben schlichtweg nicht gelernt, unsere Gefühle bewusst wahrzunehmen, auszuhalten, ihre Botschaft für unser Seelenheil zu entschlüsseln und sie offen zu zeigen. Höchste Zeit also für eine bewusste Neuprogrammierung!
Jedes einzelne aufkommende Gefühl ist kostbar, hat seine Berechtigung und möchte nur eins: gesehen und gefühlt werden. Unvoreingenommen und wertungsfrei. Da unterscheidet es sich nicht von uns Menschen. So auch die Trauergefühle, die allesamt Puzzleteile unseres persönlichen Trauerpuzzles sind und einander bedingen, um uns zu heilen.
Vollumfänglich fühlen
Eine ganz besondere Form, um unseren Gefühlen Ausdruck zu verleihen, sind unsere Tränen. Sie verstärken ein bereits vorhandenes inneres Gefühl und machen es im außen sichtbar. Weinen ist ein natürlicher intuitiver Vorgang, der ins Fließen bringt, was ins Fließen gehört. Stoppe ich diesen natürlichen Fluss, kann mein Gefühl nicht verarbeitet werden und lagert sich, bildlich gesprochen, am Boden ab. Das mag eine Weile gut gehen, aber irgendwann wiegen all die nicht gesehenen, unterdrückten Tränen und Gefühle immer schwerer und bringen mein ganzes System zum Implodieren – ganz wie bei einem umkippenden See.
Dass das nicht geschieht, hat glücklicherweise ein jeder in seiner Hand. Ich möchte dich daher von Herzen dazu ermutigen, deine Gefühle als unverzichtbaren, bedeutungsvollen Teil deiner selbst anzunehmen und ihnen den Raum zu geben, den sie brauchen. Dazu gehört, dass du deine Gefühle fühlst und zeigst. Vollumfänglich! Besonders auch die schmerzhaften, herausfordernden Gefühle, wie Trauer, Angst oder Wut. Mach dir zudem immer wieder bewusst, dass du mit deinem jetzigen Verhalten die zukünftigen Prägungen deiner Kinder und Enkel beeinflusst. Und bitte, trau dich zu weinen. Ob du nun allein bist oder in Gesellschaft. Schalte deinen Verstand aus und lass dein Herz sprechen. Jede Träne heilt dich ein Stückchen mehr, sorgt für emotionale Reinigung und nährt dein inneres Wachstum. Alles, was ist, darf sein. Und was sein darf, kann sich verändern.
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